„Die Gehirne von Männern und Frauen unterscheiden sich vom Augenblick der Befruchtung an.“ An diesem Grundsatz der Neurobiologie lässt Louann Brizendine keinen Zweifel. Nach Auffassung der Neuropsychiaterin folgt daraus, dass sowohl Männer als auch Frauen die biologischen und sozialen Instinkte, die das andere Geschlecht antreiben, missverstehen. Schlechte Voraussetzungen für ein angenehmes Zusammenleben, wie es scheint.
Nach wissenschaftlichen Untersuchungen, die in Das männliche Gehirn herangezogen werden, interessieren sich Jungen für Abenteuer und Wettbewerbe, während Mädchen kooperative Spiele bevorzugen. Dieses Verhalten sei großenteils biologisch in den Gehirnen verankert. Männliche Teenager erfasse ein „Testosteron-Tsunami“. Im Erwachsenenalter schließlich sei für Männer zunächst Rangordnung und Hierarchie bedeutend.
Über Frauen hält Brizendine fest, dass es kein besseres Liebeselixier gebe als männliche Dominanz und Kraft. Die US-Wissenschaftlerin präzisiert: „Unterschiede werden durch Kultur und Erziehung verstärkt, aber ihren Ausgangspunkt haben sie im Gehirn.“ Dabei sei im männlichen und weiblichen Gehirn der Zugang zu den gleichen Schaltkreisen möglich, aber ohne äußere Eingriffe würden sie unterschiedlich genutzt.
Vom Scheitel bis zur Zehenspitze ist der Mensch nicht frei, sicher schränken uns unsere biologischen Wurzeln ein. Doch wie hält es die Gehirnforschung mit der freien Entscheidung, wenn wir doch instinktgesteuerte Hormonabhängige sind? Ist Krieg lediglich das Ausleben männlichen Instinkts? Und warum gibt es so mannigfaltige menschliche Kulturen, wenn unsere biologischen Voraussetzungen nur so wenig Spielraum zulassen? Und was sollen Lehrkräfte mit der Aussage der Neurobiologie anfangen, Buben ignorieren von Natur aus, was ihre Klassenkameradinnen sagen?
Letztendlich geht es um die Frage, inwieweit die Erkenntnisse der Gehirnforschung unsere Wahrnehmung bereichern oder unsere Schuldfähigkeit gefährlich einschränken. Brizendine selbst sieht die Sache positiv wie pragmatisch und will mit ihrem Buch erreichen, dass Männer ihre eigenen Antriebe besser begreifen und Frauen lernen, sie zu verstehen. Vonnöten wäre zusätzlich ein interdisziplinärer Dialog zwischen Natur-, Sozial- und Kulturwissenschaft, der zwar oft gefordert, aber nur selten umgesetzt wird.
– Herwig Slezak